Zitat Autor
Wirtschaftskraft ist in der Tat ein „Plus“ – ein Mehr an Themen, an Hintergründen und an Aktualität. Mit dieser Plattform wird die wirtschaftliche Kompetenz des Standortes Pforzheim medial begleitet und weit in die Region getragen.

Oliver Reitz

Direktor des Eigenbetriebs Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim (WSP)

Newsletter Anmeldung

+ monatliche Erscheinung
+ aktuelle Themen und wichtige Termine
+ neue Unternehmensportraits und Unternehmensprofile
Datenverarbeitungshinweis*

Das Klingel-Aus: "In meinem gesamten Berufsleben hat mich nichts so sehr getroffen"

Das Klingel-Aus erschüttert die Region. Im Interview mit WirtschaftsKraft teilt Agenturchefin Martina Lehmann ihre Gedanken zu dieser immensen Herausforderung. Sie betont: "In meinem gesamten Berufsleben hat mich nichts so sehr getroffen. Fast alle (1.050) der über 1.300 betroffenen Frauen und Männer leben in meinem Arbeitsagenturbezirk, fast ausnahmslos in der Region Pforzheim/Enzkreis."
Martina Lehmann, Geschäftsführerin der Arbeitsagentur Nagold-Pforzheim über das Klingel-Aus. Foto: Annette Cardinale Fotografie

07.09.2023

WirtschaftsKraft: Das Klingel-Aus ist in Pforzheim dieser Tage das traurige Gesprächsthema Nummer 1. Was für Worte finden Sie für die Situation?

Lehmann: Mit Worten lässt sich das nur schwer beschreiben. Ich glaube, es ist für uns alle, die wir uns mit der Region verbunden fühlen, eine belastende und schmerzhafte Situation. Am schlimmsten ist es aber für die 1.336 Menschen, die nicht nur ihren Arbeitsplatz verlieren werden, sondern weit mehr. Der überwiegende Teil der Klingel-Beschäftigten arbeitet dort schon 20 Jahre oder länger, das heißt diese Menschen verlieren nicht nur ihre finanzielle Existenzgrundlage, sondern einen emotional wichtigen und zentralen Bestandteil ihres Lebens. Auf der anderen Seite ist klar, dass die Beschäftigten deutlich mehr als unser Mitgefühl brauchen, den davon können sie ihre Miete und andere Fixkosten nicht bezahlen. Deshalb habe ich, sofort nach Bekanntwerden der Schließung, eine agenturinterne Taskforce ins Leben gerufen, die konkrete Hilfen für die Beschäftigten organisiert hat.

WirtschaftsKraft: Mehr als 1300 Menschen werden ihren Job verlieren. Was macht das mit dem Arbeitsmarkt in Pforzheim?

Ich werde jetzt immer nach der Entwicklung der Arbeitslosenquote in Pforzheim gefragt. Im Moment geht es aber um etwas viel Bedeutsameres als Zahlen und Quoten. Es geht jetzt vielmehr darum, mit den Betroffenen gemeinsam eine neue berufliche Perspektive zu entwickeln und ihnen gleichzeitig die Angst vor finanziellen Engpässen zu nehmen, indem wir den gesamten Prozess der Arbeitsuchendmeldung, Arbeitsvermittlung und der Zahlung des Arbeitslosengeldes organisieren. Ich bin dankbar, dass wir schon vor der Klingel-Insolvenz allein im Stadtkreis Pforzheim und dem Enzkreis mehr als 2.500 offene Stellen von unseren Betrieben im Angebot hatten. Nach Bekanntwerden der Schließung war ich überwältigt von den Solidaritätsbekundungen der mittlerweile fast 60 Betriebe, die uns kontaktiert und signalisiert haben, dass sie den betroffenen Klingel-Mitarbeitenden eine neue Jobperspektive bieten möchten. Diese hohe Nachfrage nach Arbeitskräften insgesamt und explizit auch nach den Klingel-Beschäftigten stimmt mich hoffnungsfroh, dass es uns gelingen wird, den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Grenzen zu halten.

WirtschaftsKraft: Wie sehen ihre Arbeitstage derzeit aus? Wie heiß laufen die Drähte?

Das ahnen Sie sicher. Die Tage sind sehr fordernd, da solche Herausforderungen nur mit höchster Effizienz, hoher Kreativität und intensiver Kommunikation im Innen- und Außenverhältnis zu bewältigen sind. Was mich sehr freut, ist die gute Zusammenarbeit mit der Betriebsratsvorsitzenden und dem Personalleiter von Klingel sowie die vielen Unterstützungsangebote von unseren Netzwerkpartnern aus der Region, an erster Stelle dem Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim. Da laufen die Drähte aus gutem Grund heiß.

WirtschaftsKraft: Wie gehen Sie als Agentur mit solch einer dramatischen Situation um? Wieviel Fingerspitzengefühl ist gefragt?

Entlassen zu werden ist für die meisten Menschen, egal bei welchem Betrieb sie beschäftigt waren, ein fast schon traumatisches Erlebnis. Insofern sind meine Mitarbeitenden über Ausbildung oder Studium speziell darauf vorbereitet, mit Emotionen wie Enttäuschung, Trauer und manchmal auch Wut, umzugehen. Im Falle der Klingel-Betriebsschließung betrifft es nun aber nicht einen oder auch zehn Menschen, sondern über 1.300 Frauen und Männer, die an einem einzigen Nachmittag gleichzeitig erfahren haben, dass sie in Kürze ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Das ist für meine Mitarbeitenden somit natürlich auch eine emotional extrem belastende Situation, die hohes Einfühlungsvermögen und Belastbarkeit erfordert.

WirtschaftsKraft: Wie groß stehen die Chancen Klingel-MitarbeiterInnen an andere Unternehmen zu vermitteln?

Ich sehe gute Chancen. Bei uns in der Agentur für Arbeit Nagold-Pforzheim sind aktuell über 4.700 offene Stellen gemeldet, darunter allein rund 2.500 von Betrieben aus Pforzheim und dem Enzkreis. Damit wir ein klares Bild über die Kompetenzen, Qualifikationen und Interessen der Klingel-Beschäftigten erhalten, werden wir für die dafür notwendigen Beratungsgespräche ab 18. September Vermittlungsbüros der Arbeitsagentur, direkt vor Ort in den drei Klingel-Niederlassungen in Pforzheim, eröffnen. Da der Großteil der Beschäftigten zum 30. November 2023 und in einer zweiten Welle zum 31.01.2024 gekündigt wurde und bis dahin noch arbeitet, steigen wir also schon sehr früh vor Ort in den Vermittlungsprozess ein.
So können wir beispielsweise für die über 480 Beschäftigten, die nicht über eine abgeschlossene Ausbildung verfügen, gegebenenfalls notwendige Qualifizierungsangebote oder auch Umschulungen rechtzeitig organisieren.

Letztendlich zeigt die Erfahrung, dass unabhängig von der Qualifikation, die Vermittlungschancen umso höher sind, je größer die Flexibilität der Betroffenen ist.

WirtschaftsKraft: Sie haben in ihrer Zeit bei der Agentur für Arbeit sicher schon einige schwierige Situationen erlebt, aber gab es so etwas schon einmal?

In meinem gesamten Berufsleben hat mich nichts so sehr getroffen. Fast alle (1.050) der über 1.300 betroffenen Frauen und Männer leben in meinem Arbeitsagenturbezirk und diese fast ausnahmslos in der Region Pforzheim/Enzkreis. Teilweise haben ganze Familien in Pforzheim von einem Tag auf den anderen ihre Zukunftsperspektive verloren.

Das Interview führte Tanja Meckler

Jetzt Newsletter abonnieren und von vielen Vorteilen profitieren!