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Oliver Reitz

Direktor des Eigenbetriebs Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim (WSP)

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Tausche Konzernkarriere gegen – Elternpflege!

Topmanagerin Vera Schneevoigt hat bei Bosch gekündigt, um künftig für ihre Eltern und Schwiegereltern da zu sein. In Ihrem Gastbeitrag schreibt Sie, was Sie zu diesem Schritt bewogen hat.
Vera Schneevoigt. Die Topmanagerin bei Bosch gibt ihre Konzernkarriere auf, um sich künftig um ihre Eltern und Schwiegereltern zu kümmern. © Chris Mueller, eyeamchris.com

Gastbeitrag von Vera Schneevoigt

Wenn ich am 30. September mein Büro bei Bosch verlasse, habe ich auf den Tag genau 38 Jahre als Angestellte gearbeitet, davon mehr als 20 Jahre mit sehr hohem persönlichen Einsatz als Managerin. Warum ich das jetzt alles aufgebe. 

Ich habe für große Tech-Unternehmen wie Siemens, Fujitsu und zuletzt als Chief Digital Officer im Geschäftsbereich Gebäudetechnik bei der Bosch-Gruppe gearbeitet. Ab dem 1. Oktober ist damit Schluss – ich werde ein neues Kapitel aufschlagen. Ich beende meine Konzernkarriere. Um im Sinne unserer ehemaligen Bundeskanzlerin zu sprechen: „Vera macht jetzt nur Wohlfühltermine?“ Dann antworte ich: „Ja, aber im weitesten Sinne!“

Die Entscheidung für diesen Schritt habe ich aus sehr persönlichen Gründen getroffen. Bereits zu Beginn des letzten Jahres deutete sich an, dass sowohl die Eltern meines Mannes als auch meine Eltern zunehmend Hilfe im Alltag brauchen werden. Alle vier sind um die 80 Jahre alt und schaffen viele Dinge nicht mehr so wie früher. Fast jeder Elternteil war in den letzten Monaten schon mindestens einmal gesundheitlich stark eingeschränkt. Mein Mann und ich haben uns deshalb überlegt, welche Möglichkeiten wir haben, unser Leben anders zu gestalten, damit wir für unsere Eltern da sein können. Wir haben festgestellt, dass wir mehr Zeit für die wirklich wichtigen Menschen in unserem Leben brauchen und so einen Prozess in Gang gesetzt, unser Leben anders auszurichten.  

Das Schicksal gestaltete mit

Unser Plan war zunächst vage und sollte ursprünglich erst ein paar Jahre später umgesetzt werden. Akute Gesundheitsprobleme der Eltern gaben uns ersten Anlass zu Beschleunigung. Die Flutkatastrophe im Ahrtal im vergangenen Sommer bestätigte uns auf schicksalhafte Weise. Nicht weit entfernt vom Haus meiner Schwiegereltern brachte die Flut Leid und Verwüstung mit sich. Sie hatten die Lage völlig falsch eingeschätzt und sind nur durch einen glücklichen Zufall vor dem Schlimmsten bewahrt worden – es hörte rechtzeitig auf zu regnen. Obwohl mein Mann Thomas vor Ort war, haben wir erkennen müssen, dass wir zu weit weg leben, um in entscheidenden Momenten für unsere Eltern da sein zu können.

Diese Situation löste den ersten konkreten Schritt aus – nämlich schneller als gedacht von Oberbayern zurück in die Eifel zu ziehen. Daraus wurde ein kleines Familienprojekt. Wir mussten unser Renovierungsvorhaben am neuen Wohnort deutlich beschleunigen. Wir verkauften das Haus, organisierten den Umzug, und ich musste überlegen, wie es in meinem Beruf weitergeht. Oder eben nicht weitergeht. Denn am Schluss stand die Entscheidung, dass ich meine Arbeit bei Bosch aufgeben werde. Ich kündigte. 

Unternehmen müssen Pflegezeiten neu denken 

Der Umzug nahe zu den Eltern bedeutete gleichzeitig auch eine emotionale und räumliche Veränderung für unsere (volljährigen) Pflegekinder in Beruf und Ausbildung in Bayern. Nun bin ich in der sehr privilegierten Situation, mir diesen Ausstieg leisten zu können. Ich bin aber die Ausnahme. Viele Menschen müssen neben ihrem Vollzeitjob Angehörige und Verwandte pflegen, die schwer krank oder schwerstbehindert sind. Was viele nicht wissen: 48 Prozent der Pflegenden berichten von mindestens einer diskriminierenden Erfahrung am Arbeitsplatz.

Das geht aus der aktuellen Befragung im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hervor. Gehaltserhöhungen bleiben in solchen Situationen aus, die individuelle Leistung wird plötzlich schlechter bewertet und niemand nimmt Rücksicht auf Pflegeaufgaben bei der Terminierung von Sitzungen. Die Diskriminierung von Eltern kleiner Kinder und Pflegenden am Arbeitsplatz ist  weit verbreitet und kennt viele Facetten. Über erstere haben wir als Gesellschaft die vergangenen Jahrzehnte viel diskutiert, die Unternehmen haben inzwischen Lösungen gefunden. Bei der Pflege stehen wir aber noch ganz am Anfang. 

So geht das nicht weiter, so kann es nicht weitergehen. Unternehmen müssen künftig auch diese Phase im Leben ihrer Arbeitnehmenden komplett neu denken. Unsere Eltern werden, und das ist schön, im Schnitt immer älter. Leider bedeutet das auch, dass Angehörige immer öfter und länger ihre Eltern werden pflegen müssen. Vor diesem Phänomen kann die deutsche Wirtschaft nicht länger die Augen verschließen. HR-Abteilungen müssen schnellstens Modelle ersinnen und ausprobieren, die es ihren Mitarbeitenden ermöglichen, Pflegezeiten und Job miteinander zu verbinden. Das gilt übrigens nicht nur für Frauen! Und wo das nicht möglich ist, müssen sie über einen gewissen Zeitraum Ausstiegsmodelle aus dem Arbeitsleben anbieten. Es kann ja nicht sein, dass Sabbaticals inzwischen gang und gäbe sind, um Talente zu halten – die Pflege der Eltern aber zum Karrieraus wird. Welches Bild wirft das auf die deutsche Wirtschaft, wenn Care-Arbeit nicht entsprechend anerkannt wird?

Dabei können die Unternehmen gerade auf die Boomer-Generation am Arbeitsmarkt derzeit wegen des Fachkräftemangels ohnehin nicht verzichten. Wer sie halten will, wer möchte, dass sie gut, produktiv und glücklich arbeitet, der muss endlich das Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf im eigenen Unternehmen angehen. Sonst schaden Arbeitgeber•innen sich letztlich selbst, weil sie Mitarbeitende demotivieren und diese sich entweder nach einem anderen Job umsehen oder innerlich kündigen. Unternehmen können bei dem Thema nicht weiter auf die Politik setzen und warten, sondern müssen selbst aktiv werden und gestalten.

Ein Ausstieg auf Raten

Mein Ausstiegsmodell strickte ich mir selbst. Mir war klar, dass ich nicht von „Vera 100 Prozent“ auf „Vera Null Prozent“ umstellen konnte. Ich wollte und brauchte einen maßvollen Ausstieg, um keinen Entzug zu erleiden. Ich schlug meinem Arbeitgeber für die letzten zwölf Monate folgendes vor: Drei Monate Arbeit in Vollzeit und dann neun Monate in Teilzeit – mit Arbeitstagen von Montag bis Mittwoch. 

Die Reaktionen auf meine Beweggründe zur Kündigung waren überwiegend positiv. Meine engsten Freunde und mein Team habe ich sehr früh einbezogen und so haben sie mich in der Veränderung begleitet. Es gibt aber auch Kollegen, die diese Entscheidung bis heute im wörtlichen Sinne „unfassbar“, also nicht  greifbar finden. Weil es für sie außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt, in meiner Position einfach aufzuhören, ohne weitere berufliche (Karriere-)Pläne zu haben. 

Beruflich habe ich alles erreicht – jetzt zählen andere Dinge 

Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Wer mich etwas besser kennt, weiß, dass ich nie den klassischen Karriereweg gegangen bin. Alle Stationen zusammengenommen machen mich als Mensch überhaupt erst komplett. In Neustadt an der Weinstraße habe ich das Mädchengymnasium absolviert, dann aber nicht studiert, sondern bei Siemens meine Lehre zur Industriekauffrau gemacht und mich dort über 30 Jahre lang von der Pike auf nach oben gearbeitet. Nachdem dort mein Arbeitsbereich, die Kommunikationssparte, von einem Investor übernommen worden war, folgten fünf sehr harte und lehrreiche Jahre in der Private-Equity-Branche. Rückblickend ein berufliches Bootcamp.

Ich bekam im Anschluss die Gelegenheit, für fünf Jahre das Werk des japanischen IT-Konzerns Fujitsu in Augsburg zu leiten und lernte, als Frau mit stark hierarchisch geprägten Managern aus Japan zusammenzuarbeiten. Mit dem Entschluss des Unternehmens, seine Fertigung von Hardware wieder zurück nach Osteuropa und Asien zu verlegen, fielen auf einen Schlag 1800 Stellen weg. Der Standort wurde geschlossen und da ich selbst betroffen war, musste auch ich mir Gedanken über meinen weiteren beruflichen Weg machen. 

Über die damalige CEO Bosch Building Technologies, Dr. Tanja Rückert, landete ich schließlich bei Bosch. Ich arbeitete wieder in einem deutschen Konzern, aber erstmalig für eine Frau und nach Jahren der Kostenoptimierung und Restrukturierung ohne operative Verantwortung. Dafür sehr strategisch und vorwärtsgewand, mit dem Fokus auf technologische und innovative digitale Lösungen und neue Geschäftsmodelle. In dieser Zeit habe ich nochmal eine neue Seite an Vera entdecken können, die mich beruflich vervollständigt hat: Ich kann jetzt alles, was Konzerne mich haben lehren können. Ich muss mich in diesem Sinne nicht mehr beweisen. 

Ich erahne, wie mein neues Leben aussehen könnte 

Heute bin ich viel mehr bei mir als noch vor Monaten. Gerade habe ich beschlossen, eine Programmiersprache zu lernen. Ich höre bewusst Musik, lese und bin aktiv in der Natur. Ich interessiere mich für Philosophie und Psychologie, für Schwarmintelligenz und Technologien wie Hologramme sowie Robotik und überlege, mich eventuell damit wissenschaftlich zu befassen. Ich erahne langsam, wie mein neues Leben aussehen wird. Schon heute bin ich über meine Beirats- und Beratungstätigkeit, Konferenzen und Vorträge, die ich halte, in vielen Themen meines beruflichen Kontexts am Ball.

Ich möchte mich auch weiterhin um den Wiederaufbau des im vergangenen Sommer überfluteten Ahrtals kümmern. Es gibt dort nach wie vor viel zu tun und ich werde nun mehr Zeit haben, mich unserer Initiative „FlutMut“ zu widmen.

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