Oliver Reitz
Direktor des Eigenbetriebs Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim (WSP)
Von Gerd Lache | 30.04.2021
Mit dem gesetzlichen Mindestlohn hat der Staat eine Aufgabe übernommen, die eigentlich den Gewerkschaften zukommen müsste. Und „Missstände am Arbeitsplatz lassen sich heute viel breitenwirksamer über die sozialen Medien anprangern als durch eine Beschwerde beim Gewerkschaftssekretär vor Ort“, sagt Hagen Lesch, Leiter des Kompetenzfelds Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen beim Institut der Deutsche Wirtschaft (IW) in Köln. Um öffentlichen Druck auszuüben bedürfe es keines klassischen kollektiven Protests von Arbeitnehmern mehr.
Es habe ein gravierender Wandel in der über 120-jährigen Geschichte der Gewerkschaften stattgefunden. So sei die Arbeitswelt von gestern davon geprägt gewesen, „dass sich Arbeiter kollektiv gegen Ausbeutung wehrten“. In der Arbeitswelt von heute würden Belegschaft und Management immer öfter an einem Strang ziehen, um die Herausforderungen in ihren Betrieben gemeinsam zu bestehen“.
„Aus Ausbeutung wurde Teilhabe“, so Lesch. „Die Arbeitnehmer haben davon profitiert: kürzere Wochenarbeitszeiten mit individuellem Gestaltungsspielraum, bezahlter Urlaub, Jahressonderzahlungen und reale Lohnsteigerungen.“
Dem Institut der Deutschen Wirtschaft zufolge sind die Nettolöhne je geleisteter Arbeitsstunde seit dem Jahr 2000 in Deutschland preisbereinigt um durchschnittlich mehr als 19 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum schrumpfte demnach die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Deutschen Gewerkschaftsbund um knapp 40 Prozent von 9,7 auf 5,9 Millionen.
Sind Gewerkschaften also zu einer bedrohten Art geworden? Das Aufdecken von Missständen, beispielsweise über Soziale Medien, sei das eine. Die Beseitigung derselben das andere. „Es bedarf eines Ordnungsfaktors, der sich vor Ort professionell um die Probleme kümmert, die Bedürfnisse der Belegschaft bündelt und schließlich für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgt. Genau das ist die Aufgabe von Gewerkschaften und Betriebsräten, die vielfach eng miteinander verflochten sind“, meint Lesch.
Wollen die Gewerkschaften diese Aufgabe auch in Zukunft ausüben, müssen sie nach Meinung des IW-Experten ihre organisatorische Basis verbreitern. Aktuell seien nur noch 17 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Schon lange bestünden strukturelle Defizite – und sie bleiben ein Problem, sagt Lesch. „So sind nur 14 Prozent der Frauen, aber 19 der Männer Gewerkschaftsmitglied. Ältere sind häufiger organisiert als Jüngere. Scheiden die Älteren aus dem Erwerbsleben aus, geht auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurück.“
Besonders verwunderlich sei die Tatsache, dass die Gewerkschaften ausgerechnet dort am wenigsten Fuß fassen würden, wo es am notwendigsten wäre: bei den Geringqualifizierten. „Sie sind mit knapp 14 Prozent unterdurchschnittlich organisiert. Offenbar verspricht sich diese Gruppe von einem Gewerkschaftsbeitrag keine entsprechende Rendite“, meint Lesch.
Sollten die Gewerkschaften weiter „herum dümpeln“, werde der Staat in die Bresche springen müssen. „Mit dem gesetzlichen Mindestlohn tut er das schon heute.“ Diese staatliche Maßnahme stehe „sinnbildlich für die Schwäche der Gewerkschaften“. Deshalb ist Lesch überrascht, wenn die Gewerkschaften nach noch mehr staatlicher Unterstützung rufen. Er fragt: „Glauben sie etwa selbst nicht mehr an Ihr Comeback oder ist der Slogan ‚Solidarität ist Zukunft‘ ein Weckruf an die Arbeitnehmer zur richtigen Zeit?“
IW Köln
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit Sitz in Köln und Büros in Berlin und Brüssel ist ein eingetragener Verein. Das arbeitgebernahe Wirtschaftsforschungsinstitut wird von Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft finanziert. (gel)
Von Gerd Lache | 30.04.2021
Mit dem gesetzlichen Mindestlohn hat der Staat eine Aufgabe übernommen, die eigentlich den Gewerkschaften zukommen müsste. Und „Missstände am Arbeitsplatz lassen sich heute viel breitenwirksamer über die sozialen Medien anprangern als durch eine Beschwerde beim Gewerkschaftssekretär vor Ort“, sagt Hagen Lesch, Leiter des Kompetenzfelds Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen beim Institut der Deutsche Wirtschaft (IW) in Köln. Um öffentlichen Druck auszuüben bedürfe es keines klassischen kollektiven Protests von Arbeitnehmern mehr.
Es habe ein gravierender Wandel in der über 120-jährigen Geschichte der Gewerkschaften stattgefunden. So sei die Arbeitswelt von gestern davon geprägt gewesen, „dass sich Arbeiter kollektiv gegen Ausbeutung wehrten“. In der Arbeitswelt von heute würden Belegschaft und Management immer öfter an einem Strang ziehen, um die Herausforderungen in ihren Betrieben gemeinsam zu bestehen“.
„Aus Ausbeutung wurde Teilhabe“, so Lesch. „Die Arbeitnehmer haben davon profitiert: kürzere Wochenarbeitszeiten mit individuellem Gestaltungsspielraum, bezahlter Urlaub, Jahressonderzahlungen und reale Lohnsteigerungen.“
Dem Institut der Deutschen Wirtschaft zufolge sind die Nettolöhne je geleisteter Arbeitsstunde seit dem Jahr 2000 in Deutschland preisbereinigt um durchschnittlich mehr als 19 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum schrumpfte demnach die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Deutschen Gewerkschaftsbund um knapp 40 Prozent von 9,7 auf 5,9 Millionen.
Sind Gewerkschaften also zu einer bedrohten Art geworden? Das Aufdecken von Missständen, beispielsweise über Soziale Medien, sei das eine. Die Beseitigung derselben das andere. „Es bedarf eines Ordnungsfaktors, der sich vor Ort professionell um die Probleme kümmert, die Bedürfnisse der Belegschaft bündelt und schließlich für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgt. Genau das ist die Aufgabe von Gewerkschaften und Betriebsräten, die vielfach eng miteinander verflochten sind“, meint Lesch.
Wollen die Gewerkschaften diese Aufgabe auch in Zukunft ausüben, müssen sie nach Meinung des IW-Experten ihre organisatorische Basis verbreitern. Aktuell seien nur noch 17 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Schon lange bestünden strukturelle Defizite – und sie bleiben ein Problem, sagt Lesch. „So sind nur 14 Prozent der Frauen, aber 19 der Männer Gewerkschaftsmitglied. Ältere sind häufiger organisiert als Jüngere. Scheiden die Älteren aus dem Erwerbsleben aus, geht auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurück.“
Besonders verwunderlich sei die Tatsache, dass die Gewerkschaften ausgerechnet dort am wenigsten Fuß fassen würden, wo es am notwendigsten wäre: bei den Geringqualifizierten. „Sie sind mit knapp 14 Prozent unterdurchschnittlich organisiert. Offenbar verspricht sich diese Gruppe von einem Gewerkschaftsbeitrag keine entsprechende Rendite“, meint Lesch.
Sollten die Gewerkschaften weiter „herum dümpeln“, werde der Staat in die Bresche springen müssen. „Mit dem gesetzlichen Mindestlohn tut er das schon heute.“ Diese staatliche Maßnahme stehe „sinnbildlich für die Schwäche der Gewerkschaften“. Deshalb ist Lesch überrascht, wenn die Gewerkschaften nach noch mehr staatlicher Unterstützung rufen. Er fragt: „Glauben sie etwa selbst nicht mehr an Ihr Comeback oder ist der Slogan ‚Solidarität ist Zukunft‘ ein Weckruf an die Arbeitnehmer zur richtigen Zeit?“
IW Köln
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit Sitz in Köln und Büros in Berlin und Brüssel ist ein eingetragener Verein. Das arbeitgebernahe Wirtschaftsforschungsinstitut wird von Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft finanziert. (gel)
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