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Oliver Reitz

Direktor des Eigenbetriebs Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim (WSP)

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New Work Pionier im Handwerk: Es geht auch ohne Chef!

"New Work“ hat es mittlerweile zum Buzzword geschafft und muss für ganz viele Dinge herhalten. Als Stephan Heiler 2012 mit der Transformation seines Unternehmens startete, war ihm dieser Begriff nicht bekannt. Trotzdem gilt er jetzt als Pionier und auch als Exot. Dass ein traditioneller, ländlicher Handwerksbetrieb mit 37-jähriger Geschichte ohne klassischen Chef funktioniert lässt aufhorchen.
Stephan Heiler, Heiler GmbH. Foto: André Bakker

von Tanja Meckler (Archivartikel 02.06.2021)

Ich wollte nicht mit der „Misstrauens-Brille“ der Belegschaft Ansagen machen müssen und diese dann mit den klassischen Methoden Controlling, Führen mit Zielen, Mitarbeitergesprächen mit individuellen Zielvereinbarungen und pseudo-gerechten Gehaltsmodellen durchdrücken.
Stephan Heiler, Alois Heiler GmbH

Von vorneherein war für Stephan Heiler klar, dass er kein mittelständischer Patriach sein wird und auch kein klassischer Chef mit „Misstrauenbrille“. Verantwortung übernehmen ja, aber anders. Eine menschengerechte, sinnvolle Betriebswirtschaft, diese Vision hatte er vor Augen, als er die Firma seines Vaters übernehmen sollte. Eine Idee blitzte auf, doch die Umsetzung sollte ein steiniger Weg werden. Denn vor sieben Jahren fühlte sich Stephan Heiler meist ziemlich alleine mit seiner Philosophie. Heute darf er sich über viel Zuspruch und Anerkennung freuen.

Ich bin davon überzeugt, dass es, ohne die Einbeziehung der Mitarbeiter, ohne diese neue Kultur, die Firma Heiler heute nicht mehr geben würde.

Stephan Heiler

Die Alois Heiler GmbH ist eine mittelständische Glas-Manufaktur in Baden-Württemberg. Allerdings existiert der Posten Geschäftsführer nur noch auf dem Papier. New Work und agiles Arbeiten sind hier längst etabliert und zwar zu einem Zeitpunkt, als diese Begrifflichkeiten noch nicht in aller Munde waren und es dazu auch noch keine breite Palette an Seminarangeboten gab.

Ich glaube schon, dass Heiler hier noch als Exot bezeichnet werden kann. Da wir kein Startup sind, keine „Softwarebude“ aus dem Berliner Umfeld, sondern ein traditioneller Handwerksbetrieb mit 37- jähriger Geschichte, in ländlicher Region, macht das noch etwas spezieller und außergewöhnlicher.
Dabei können wir sicherlich nicht als Blaupause für eine erfolgreiche Transformation dienen. Ich glaube aber, dass wir mit unserer Geschichte den Beweis erbracht haben, dass es Alternativen zur klassischen Unternehmensführung gibt und dass es dafür gute Gründe gibt, die man auch rational argumentieren kann.

Stephan Heiler

Der Duschtürenhersteller aus der Provinz bei Karlsruhe, wird seit über sechs Jahren in funktionsübergreifenden Teams ohne formale Hierarchie geführt. Alle Chefs und Führungsrollen wurden gestrichen. Damit entmachtete Stephan Heiler auch sich selbst.Das Team „Manufaktur“ kümmert sich zum Beispiel um Einzelaufträge der Kunden. Frühere funktionale Abteilungen wie Außendienst, Vertriebsinnendienst, Monteure oder Aufmaßtechniker agieren heute in diesem Team zusammen. Entstanden ist dadurch ein Verständnis für den Gesamtprozess.

Unsere Mitarbeitenden sind es gewohnt, in ihrem Tagesgeschäft eigenverantwortlich zu handeln. Sobald es Themen gibt, die über das Tagesgeschäft hinaus gehen und nicht mehr als Einzelperson entschieden werden können, da es andere Personen betrifft, handelt es sich um Struktur- und Strategiethemen. Um hier den Durchblick zu bewahren, haben wir das Denkwerkzeug „Entscheidungs-Design“ entwickelt. Unser Entscheidungsdesign stellt den klassischen Entscheidungsprozess in hierarchischen Firmen auf den Kopf. Bei uns gilt: Je wichtiger das Thema und je größer die Tragweite der Entscheidung dazu, desto größer ist die Gruppe, die in diesen Entscheidungsprozess mit eingebunden ist. Wir machen damit alle Betroffenen zu Mitentscheidern.

WirtschaftsKraft: Sie wollten kein klassischer Chef sein und haben stattdessen alle Hierarchien abgeschafft. Warum?

Dafür gibt es zwei Hauptmotive. Das eine ist die rein rationale Überlegung bzw. Überzeugung, dass die heutige Welt viel zu komplex und schnelllebig geworden ist, als dass man als einzelner Chef oder auch mit Hilfe eines kleinen Führungskreises dieser Herausforderung gewachsen sein kann. Frei nach Ashby´s Law kann man eine komplexe Umwelt nur mit einem ähnlich komplexen System meistern. Hier ist unsere agile Selbststeuerung einer starren Hierarchie weit überlegen.

Das zweite Motiv war und ist immer noch emotionaler Natur. Ich spürte in mir den Wunsch, Verantwortung für das Unternehmen übernehmen zu wollen, ohne die klassische Chefrolle spielen zu müssen. Ich wollte nicht mit der „Misstrauens-Brille“ der Belegschaft Ansagen machen müssen und diese dann mit den klassischen Methoden Controlling, Führen mit Zielen, Mitarbeitergesprächen mit individuellen Zielvereinbarungen und pseudo-gerechten Gehaltsmodellen durchdrücken. Glaubenssätze wie „Du kriegst die Leute nur über den Geldbeutel“ oder „Ist die Katze aus dem Haus, dann tanzen die Mäuse auf dem Tisch“ fand ich grauenhaft und passten nicht in mein Welt- und Menschenbild.

Der Wandel – nicht alle kamen damit klar.

WirtschaftsKraft: Wie verlief denn der Abschied von gängigen Strukturen? Wie sah die Transformation aus?

Zu Beginn in meiner neuen Rolle als Geschäftsführer und Mehrheitseigentümer versuchte ich, gemeinsam mit einem externen Coach, ein kleines Team Mitarbeitenden von meiner Idee einer neuen Arbeitskultur und Organisationsstruktur zu begeistern. Wir orientierten uns hier an dem 8-Stufen-Modell von J. P. Kotter. Der erste Schritt war die Dringlichkeit, die war aus meiner Sicht gegeben und so gingen wir schnell zu Schritt zwei über, der Bildung eines Change-Teams oder nach Kotter a guiding coalition. Ich suchte mir dafür die, aus meiner Sicht, fähigsten und erfahrensten Mitarbeitenden aus. Das waren die damaligen Führungskräfte und Nachwuchsführungskräfte. In diesem siebenköpfigen Team wollte ich meine Gedanken vorstellen und gemeinsam die Transformation für das gesamte Unternehmen vorbereiten. Leider musste ich nach gut 1,5 Jahren Ende 2013 aufgeben. Ich hatte die Angst vor Veränderung und Verlust in dieser Gruppe unterschätzt.

Das Ziel die Führungsmannschaft in die neue Zukunft des Unternehmens mitzunehmen, sie scheiterte.

Die früheren Teilnehmer des Change-Teams haben bis auf zwei junge Damen allesamt die Firma verlassen – aus ganz unterschiedlichen Gründen: fehlende Karriereleiter mit einem Posten mit Personalverantwortung, kein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Lernbereitschaft der Belegschaft, Statusverlust, etc.

Stephan Heiler hielt an seiner Vision fest und startete Anfang 2014 eine neue Offensive. In einer zweitägigen Veranstaltung holte er die komplette Belegschaft ins Boot. Es ging zum einen, um Transparenz und zum anderen, um die neue Organstruktur. Zahlen, Daten, Fakten zu allen verfügbaren Unternehmensdaten wurden offen präsentiert und diskutiert. Und es wurden die notwendigen Schritte für die neue Struktur aufgezeigt:

  • Auflösen der funktionalen Abteilungen und Zusammenschluss in neuen, funktionsübergreifenden Teams
  • Weg von individuellen Spezialisten hin zu Generalisten
  • Notwendigkeit von interner Weiterbildung
  • Definition von Eigenverantwortung in dieser neuen Struktur
  • Maximale Transparenz durch ein Mitarbeiter-orientiertes Controlling
  • Verbot von formaler Hierarchie
  • Inklusive dem Versprechen von mir als Geschäftsführer, keine formal hierarchische Einzelentscheide mehr zu treffen

„Es war natürlich nicht sofort Begeisterung dafür da, aber zumindest Offenheit und Neugierde sowie die Bereitschaft, sich mit dieser Idee intensiv auseinanderzusetzen. Damit war das Eis gebrochen und wir starteten umgehend mit der internen Weiterbildung sowie der durch die Mitarbeiter entwickelten Teamgestaltung in der neuen Organstruktur.Dabei konnten wir feststellen, dass die verbleibende Belegschaft diese Situation sehr verantwortungsbewusst regelte. Das Tagesgeschäft lief trotz der Abgänge der Führungskräfte reibungslos weiter.“

WirtschaftsKraft: Haben Sie den Schritt je bereut? Oder war es zukunftsweisend auf alle Fälle die richtige Entscheidung?

Bereut habe ich den Schritt zu keinem Zeitpunkt. Natürlich gab es Phasen großer Anstrengung und auch Enttäuschungen lassen sich nicht vermeiden. Aber ich war mir immer sicher, dass wir uns auf den richtigen Weg gemacht haben. Die ersten vier Jahre waren geprägt von vielen Herausforderungen, die ein solcher Transformationsprozess mit sich bringt, aber zusätzlich auch von externen, davon unabhängigen Problemen: Unser Hauptlieferant für Glas brach kurz nach unserem Kick-Off von heute auf morgen weg, frühere Mitarbeiter schlossen sich zu einem Konkurrenzunternehmen direkt vor unserer Haustür zusammen und kopierten unser Geschäftsmodell, nutzten unsere Netzwerke von Lieferanten, Servicepartnern, nahmen Stammkunden mit. In dieser schwierigen Phase mussten wir ums Überleben kämpfen. Und in dieser Phase habe ich erlebt, was eine Firma leisten kann, wenn sich alle aufeinander verlassen können. Wenn jeder Mitarbeitende weiß, dass er mitverantwortlich ist, ob wir es schaffen oder nicht.

Unternehmer Heiler und Katalysator Gebhard Borck sind der Sehnsucht nach einer neuen Unternehmenslandschaft hartnäckig gefolgt. Ihre Erfahrungen hat das Duo in einem Buch veröffentlicht.

In unserem Buch ‚Chef sein? Lieber was bewegen!‘, dass ich mit unserem damaligen Coach Gebhard Borck zusammen geschrieben habe, erzählen wir die Geschichte von den ersten Ideen einer neuen Arbeitskultur bis zur erfolgreichen Umsetzung. Dabei verzichten wir auf umfangreiche theoretische Grundlagenforschung und legen den Schwerpunkt auf die echten Geschichten unserer Transformation. Wie sind unsere Mitarbeitenden damit umgegangen? Wie haben wir die Krisen erlebt? Was haben wir wie gelernt? Welche Erfolge konnten wir feiern?
Auch ein paar der von uns entwickelten Denkwerkzeuge wie beispielsweise unser Entscheidungs-Design oder die Firmen-DNA werden im Buch beschrieben. Deshalb ist dieses Buch für alle Menschen interessant, die auf der Suche sind nach neuen Impulsen für eine menschgerechte, sinnvolle Betriebswirtschaft, für Unternehmer genauso wie für Führungskräfte, Angestellte und auch Unternehmensberater. Wir liefern keine Vorlage für „den“ Transformationsprozess. Den muss jedes Unternehmen für sich allein entwickeln. Aber wir machen mit unserer Geschichte Mut zum Wandel.

Das Wertvollste sind die echten Geschichten der Transformation.

WirtschaftsKraft: Kommen auch größere Unternehmen auf Sie zu und fragen um Rat?

Durch unser Buch und die begleitende Kampagne werden wir als New Work Pionier im Handwerk wahrgenommen. Auch Veröffentlichungen von Interviews in Portalen wie www.kulturwandel.org oder Reportagen im SWR oder im ZDF heute journal sorgen für eine hohe Reichweite. Dadurch kommt es auch zu Anfragen von Unternehmern aus dem Mittelstand und auch größeren Organisationen. Vom Impulsvortrag oder einer Podiumsdiskussion bis hin zum intensiven Austausch unter vier Augen kommt alles vor. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass das wertvollste für meine Gesprächspartner die echten Geschichten aus unserer Transformation sind. Denn diese bringen Klarheit bei der Frage „Ist diese Arbeitskultur auch etwas für mich als Unternehmer und für mein Unternehmen?“.

“ Das verlinkte Video beinhaltet Werbung.“
© Alois Heiler GmbH
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